Objekt des Monats

Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.

September 2022

Plakat, 1971

Größe

50 x 70 cm

Material

Papier

Schenkung

Frédéric Zucco

Zucco

Historische Einordnung

Der Fotograf, Journalist, Historiker und Kurator Jean-Claude Gautrand lebte mehr als 85 Jahre in Paris. Eine seiner bekanntesten Arbeiten ist die Reihe „L'Assassinat de Baltard“, die die Zerstörung der Pariser Hallen dokumentiert. Der „Bauch von Paris“ wurde in einem der größten Umzüge der Stadt 1969 abgebaut und schließlich Anfang der 1970er Jahre abgerissen. Anlässlich des dreijährigen Todestages des Fotografen am 23. September erzählt der Schenker Frédéric Zucco von seinem persönlichen Bezug zu einem dieser Bilder.

Kurzbiographie

Frédéric Zucco wird 1958 in Paris geboren. Seine Eltern, die in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen aufwachsen, sind kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig voneinander aus Norditalien nach Frankreich migriert. Der Traum von einem besseren Leben und die italienische Community in Paris führen sie zusammen. Frédéric wächst in einem migrantischen Viertel auf, seine Eltern geben ihm und seinen Geschwistern aber – oder vielleicht gerade deswegen - komplizierte französische Vornamen. Ihr Wunsch: Das unbedingte und kompromisslose Einfügen und Integrieren in Frankreich und die soziale Mobilität der Familie.

Frédéric Zucco macht in Paris sein Abitur und beginnt, Informatik zu studieren. Bei einem Urlaub in Griechenland lernt er eine Augsburgerin kennen. Nach einer anderthalbjährigen Fernbeziehung zwischen Frankreich und Deutschland entscheidet er sich 1987 zur Einwanderung. Seine Betätigung im Betriebsrat und in der Gewerkschaft in Frankreich möchte er auch in Bayern weiterführen. So umfasst sein Engagement bis heute die Arbeit in verschiedenen Arbeitskreisen, die sich der Migrations- und Flüchtlingsarbeit widmen, in Kulturvereinen, in politischen deutschen und französischen Parteien und als Schöffe. 

Bedeutung des Objekts

„‚Les Halles‘, wie die Pariser und Pariserinnen sie nannten, waren bis in die 1960er Jahren die größten Markthallen im Zentrum von Paris. Sie sind auch unter den Namen „Pavillons de Baltard“ bekannt. Zehn große Bauten dieses berühmten Architekten des 19. Jahrhunderts beherbergten die Hallen, in denen Fleisch, Fisch, Käse, Eier, Gemüse und Obst für den Einzel- und den Großhandel verkauft wurden. Die Gesamtfläche betrug mehr als 30.000 m².

Meine Eltern, italienische Migranten, waren sehr arm. Wir lebten zu fünft in einer 40 m² großen Wohnung. Aber verhungern sollten wir nicht. Deshalb ging meine Mutter regelmäßig zu ‚Les Halles‘, denn dort waren die Produkte billiger als in den Tante-Emma-Läden (es gab noch keine Supermärkte). Und ich muss auch zugeben, dass wir oft spät dahingingen, um eventuelle verbilligte Reste zu bekommen. Die Stimmung ist für heutige Verhältnisse kaum vorstellbar: tausende Verkäufer und Verkäuferinnen (mit ihrer derben Sprache), zigtausend Kunden und Kundinnen, und diese vielen Gerüche...unbeschreiblich. 1960 wurde von der Regierung beschlossen, ‚Les Halles‘ nach Rungis (10 km von Paris) zu verlegen.

Aus heutiger Sicht kann man es verstehen: Dieser riesige Markt in der Mitte von Paris war nicht mehr geeignet, viele kleinere entstanden überall in der Hauptstadt, und die hygienischen Verhältnisse wurden immer mehr zum Problem, unter anderem wegen der Ratten. Aber für die einfachen Leute, die diesen Markt schätzten und daran gewöhnt waren, war es eine Katastrophe, zumindest dachten sie es.

Der Umzug des Marktes geschah 1969 innerhalb von 2 Tagen, 1000 Unternehmen waren betroffen, 20.000 Menschen waren damit beschäftigt. Zwischen der Entscheidung und des Umzugs verliefen viele Jahre und viele hofften doch, dass es niemals passierte. Der 27. Februar 1969 war aber der endgültige Tod des Marktes in Paris. Die Bauten von Baltard blieben aber und waren auch als solche ein Symbol. Sie wurden für kulturelle Events verwendet. Sie waren an sich wunderschön. Als sie 1971 bis 1973 abgerissen wurden, war – besonders politisch und kulturell -  die Empörung sehr groß. Und es war meine erste Teilnahme an einem politischen Protest.

Den Verlust des Marktes konnte ich als Kind nicht formulieren, die Zerstörung der Bauten war für mich die Gelegenheit, konkret und gemeinschaftlich meine Wut auszudrücken. Ein paar Jahre später sah ich dieses Plakat und der Anfang meiner politischen Laufbahn kam mir wieder in Erinnerung und ich kaufte es. Als ich nach Deutschland migrierte, war es mir wichtig dieses Erinnerungsstück mitzunehmen und in meinem Zimmer aufzuhängen.“

Haben auch Sie …

… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0

oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de

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