Objekt des Monats
Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.
November 2025
Flugticket, 1952
Größe  | 9,2 cm x 19,2 cm  | 
Material  | Papier  | 
Schenkung  | Kerstin Schliemann und Lorenz Segelken  | 
Historische Einordnung
Am 6. Oktober 1952 emigrierte Johann Diedrich Segelken mit Scandinavian Airlines System (SAS) von Bremen nach New York. Obwohl transatlantische Flüge in den frühen 1950er Jahren immer beliebter wurden, reisten viele Auswandernde weiterhin mit dem Schiff. Flugreisen waren teuer und für viele ungewohnt. Im Deutschen Auswandererhaus können unsere Besucher:innen die vielfältigen Erfahrungen von Migrant:innen entdecken, die auf dem Seeweg reisten. Doch wie war es für diejenigen, die schon früh das Flugzeug nahmen? Das Flugticket gibt Einblick in die damalige Zeit des kommerziellen Flugverkehrs und lässt erahnen, wie Diedrichs Reise ausgesehen haben könnte.
Kurzbiographie
Der Entschluss zur Auswanderung Johann Diedrich Segelkens im Jahr 1952 wurde dadurch unterstützt, dass bereits mehrere Familienangehörige in den USA lebten. Was ihn darüber hinaus motiviert haben könnte, lässt sich nur vermuten – er war dreißig Jahre alt und hatte ein bewegtes Leben hinter sich.
Diedrich wurde am 7. Juni 1922 in Weyerdeelen im heutigen Niedersachsen geboren. Seine Familie betrieb einen Reiterhof und züchtete Trakehner Pferde. Nach neun Jahren Schulzeit absolvierte er eine Ausbildung zum Landarbeitsgehilfen und war kurzzeitig für die Landesbauernschaft Niedersachsen tätig, bevor er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen wurde. Während des Zweiten Weltkriegs war er unter anderem in Strelno (Polen), Sewastopol (Krim) und auf Kreta stationiert. Nach Kriegsende geriet er in sibirische Kriegsgefangenschaft und kehrte zwischen 1948 und 1951 zu Fuß ins Elternhaus nach Worpswede zurück. 1952 lernte Diedrich seine zukünftige Ehefrau Gerda Filax beim Tanztee kennen, mit der er sich kurz darauf verlobte. Am 6. Oktober 1952 wanderte Diedrich in die USA aus; Gerda folgte ihm am 2. November 1953 mit dem Schiff „America“ nach. Gemeinsam bekamen sie zwei Kinder: Kerstin und Lorenz, und kehrten nach etwa 30 Jahren nach Deutschland zurück, wo sie auch verstarben.
Bedeutung des Objekts
Vom bahnbrechenden Flug der Brüder Wright 1903 über den ersten planmäßigen Passagierflugdienst 1914 bis zur Einführung von Strahltriebwerken in den 1950er-Jahren – die rasante Entwicklung der Luftfahrt veränderte grundlegend, wie Menschen sich fortbewegen, sich verbinden und die Welt erkunden. Inmitten dieses Umbruchs flog Diedrich.
Diedrich reiste an Bord einer Douglas DC-6B – eines der modernsten propellergetriebenen Flugzeuge vor dem Siegeszug der Jet-Technologie. Die zwischen 1946 und 1958 von der Douglas Aircraft Company gebaute DC-6 bot Platz für 54 bis 102 Passagier:innen und war schneller sowie leistungsfähiger als ihre Vorgängermodelle. Sie konnten von New York aus Europa oder Teile Südamerikas in 15 bis 24 Stunden erreichen – mit mehreren Zwischenlandungen zum Auftanken. Diedrichs Reise bestätigt dieses historische Bild. Laut einer Flugplanbroschüre der SAS vom April 1952 sah sein geplanter Flug im Oktober – Flugnummer SK 901 – folgende Route vor:
Stockholm 13:25 – Kopenhagen 15:05_15:55 – Bremen 17:10_17:55 – Glasgow 20:3521:35 – Gander 03:5004:35 – New York 07:10
Bremen war eine von mehreren Zwischenstationen. Insgesamt war die Reise mit rund 14 Stunden angesetzt.
Die Broschüre zeigt auch, dass Fliegen in den 1950er-Jahren mehr bedeutete als nur ein Ticket zu kaufen. Internationale Flugreisende – insbesondere Nicht-Amerikaner –brauchten verschiedene Dokumente. Neben Reisepass, Visum und Geldnachweis musste Diedrich auch ein Pocken-Impfzertifikat, Röntgenaufnahmen und serologische Blutuntersuchungen vorlegen. Diese Anforderungen erinnern an die Gesundheitskontrollen, denen sich Schiffsreisende Anfang des 20. Jahrhunderts an ihren Zielorten unterziehen mussten.
Ein Blick auf das Ticket offenbart weitere Details. Die Notiz „OW TF“ steht für „One Way Tourist Fare [Deutsch: Einfacher Touristenfahrpreis]. Die Touristenklasse, oft auch als “untere Klasse” bezeichnet, kostete Diedrich 313,10 US-Dollar, etwa 20 bis 25 Prozent weniger als ein Ticket in der Ersten Klasse. Im Jahr 1952 bedeutete Erste Klasse noch echten Luxus: Fünf-Gänge-Menüs und Bordpersonal in Uniformen, die von Modedesignern entworfen wurden. Die Touristenklasse war deutlich einfacher – mit weniger Platz und eingeschränktem Service.
Das wirft eine spannende Frage auf: Warum entschied sich Diedrich überhaupt für das Flugzeug? Für ungefähr den gleichen Preis hätte er eine luxuriöse viertägige Überfahrt mit einem Ozeandampfer in der Ersten Klasse genießen können. War es Zeitdruck? Eine besondere Gelegenheit? Oder Neugier? Seine Tochter Kerstin konnte darauf keine Antwort geben – sie erinnerte sich nur, dass die Reise von Verwandten in den USA finanziert wurde. Ein Blick auf das Ticket könnte jedoch Aufschluss geben: Unter „Date and Place of Original Issue“[Deutsch: Datum und Ort der Ausstellung] ist „Aug 22. 52 NYC” vermerkt. Das könnte darauf hindeuten, dass die amerikanischen Verwandten nicht nur das Geld gesammelt, sondern das Ticket direkt gekauft und anschließend nach Deutschland geschickt hatten. Trotzdem bleiben die Beweggründe für Diedrichs ungewöhnliche Entscheidung, Anfang der 1950er-Jahre zu fliegen, ein Rätsel.
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… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0
oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de