Objekt des Monats

Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.

August 2022

Brief, 1934

Material

Papier, Tinte

Größe

25,1 x 20,3 cm

Schenkung

Reinhard Groscurth

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1934 schreibt der 27-jährige Jörge seinem Vater aus San Francisco

Historische Einordnung

Die UN-Generalversammlung hat 1999 den 12. August zum „Internationalen Tag der Jugend“ erklärt. Manche Historiker:innen gehen weiter und bezeichnen das ganze 20. Jahrhundert als das „Jahrhundert der Jugend“. Die Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, in der den Einzelnen erlaubt ist, von Arbeit befreit und von den Eltern unterstützt Schul- oder Ausbildungszeit mit Gleichaltrigen sowie „Freizeit“ mit Gleichgesinnten zu verbringen, wurde nämlich erst nach 1900 über die bürgerlichen Schichten hinaus ein Teil der allermeisten Biographien – samt den Konflikten mit dem Elternhaus. Seit sich Jugendliche von den Erwachsenen absetzen, setzen sie sich zudem miteinander in unterschiedlichen Jugendkulturen und mit sich selbst in verschiedenen (Reflexions-)Medien auseinander.

Kurzbiographie

Georg Karl Hermann Cronemeyer, genannt Jörge, stammte aus gutbürgerlichem Bremerhavener Elternhaus. 1907 als drittes Kind und erster Sohn eines Arztes geboren, wurde von ihm erwartet, eine akademische Laufbahn einzuschlagen.

Doch mit 20 Jahren hatte der an Musik interessierte junge Mann noch kein Studium aufgenommen. Stattdessen war er auf Vermittlung seines Vaters zu seinem ausgewanderten Onkel Heinrich in die USA „geflohen“. Es sei „nötig [gewesen], von zu Hause fortzukommen, um zu sehen, wie das Leben ist“, schrieb Jörge den Eltern aus San Francisco, der Stadt, die er später als sein Zuhause betrachtete.

Am 11. November 1934 schrieb er seinem Vater von dort aus einen längeren Brief:

„Es ist wirklich ein Jammer, lieber Vater, dass wir uns nicht wieder gegenseitig kennen lernen können. Du würdest vielleicht doch ein wenig Stolz [sic!] auf Deinen Sohn sein, wenn auch Alles anders gekommen als Du es Dir vorgestellt hast und ich Dir viele, viele Male Kummer und Enttäuschung bereitet habe, aber ich glaube, dass der Krieg und die Inflation viel daran verschuldet haben. Und eines glaube ich, dass es gut ist, dass ich von allem meinem Umgang mit Stahlhelmgenossen abgeschnitten worden bin, und dass ich mir hier dann alle meine Werte und Freundschaften selbst wieder schaffen musste, also ganz auf mich selbst angewiesen war, vor allen Dingen nachdem Onkel starb. Das war ein grosser Verlust, aber alles gleicht sich ja aus im Leben und für verlorene Werte werden andere gegeben. (Wenigstens in der Jugend)“

Zur Versöhnung mit dem Vater kam es nicht mehr: Dieser starb 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg. Jörge hat ihn nicht noch einmal wiedergesehen. Und auch die Jugend Jörges in den USA verging schnell: "Gone with the wind" nannte er später das Kapitel über seine Jugend in den Lebenserinnerungen, die er kurz vor seinem Tod fertigstellte. Darin berichtet er von seinem von Arbeit geprägten Leben und von vielen Enttäuschungen und Entbehrungen als erwachsener und alter Mann. Doch darin ist auch die Rede von seiner Freude an klassischem Gesang, von seinen auf Englisch verfassten Gedichten, vielen jahrzehntelangen Freundschaften und seinem lebenslangen Kontakt zur Familie in Deutschland. Das Land seiner Geburt und frühen Jugend sieht er 1971 nach fast 40 Jahren noch einmal anlässlich einer Familienfeier wieder. 1978 starb Jörge mit 71 Jahren in San Francisco.

Bedeutung des Objekts

Der Brief ist, nach den ausgestandenen Kämpfen der Jugend, das Versöhnungsangebot eines Siebenundzwanzigjährigen an den Vater. Entscheidende Voraussetzung dieses Versuches einer Wiederannäherung war die räumliche Entfernung durch Auswanderung. Deutlich wird dadurch, inwiefern Migration Freiheit verwirklichen kann: Hier durch die Emanzipation von einem in der „Heimat“ für den Sohn vor-gesehenen, vor-geschriebenen Lebenslauf, der nicht zu dessen eigenem jugendlichen Lebensentwurf passte. Das ‚Recht der Jugend‘, sich für die Zukunft offenzuhalten, hat Jörge in diesem Brief übrigens noch weiter für sich in Anspruch genommen: Bis zu seinem 30. Lebens­jahr werde er „noch nichts ernsthaft in Angriff nehmen.“ Und er fügte hinzu:

„Ich bin dankbar dafür, dass ich eine Person bin, die langsam reif wird, ich finde immer, dass frühreife Kinder auch früh verwelken und dann fast nie soviel leisten als die, die erst später mit Bewusstsein reif werden.“

Haben auch Sie …

… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0

oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de

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