Objekt des Monats

Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.

April 2022

Zeitungsgraphik aus dem Jahr 1882

Material

Papier

Maße

38,6 cm x 28,2 cm

Dauerleihgabe

Initiativkreis Deutsches Auswandererhaus e.V.

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Historische Einordnung

Die Handelsstadt Brody ist seit der ersten Teilung Polen-Litauens 1772 Grenzstadt. Lag die heute zur Ukraine gehörende Stadt vorher mitten im polnisch-litauischen Staat, so ist sie nun Peripherie und der Ort, an dem Menschen ankommen, die aus dem Russländischen* Reich ins Kaiserreich Österreich-Ungarn reisen – oder umgekehrt die letzte Station in Österreich-Ungarn vor dem Grenzübertritt ins Zarenreich. Im Jahr 1881 wird Zar Alexander II. ermordet. Der Mord wird als Anlass für antisemitische Verleumdungen genutzt. In der Folge beginnen im Russländischen Reich Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in den Gebieten, die heute etwa zu Russland, Moldau und zur Ukraine gehören. 

In der Zeit der Pogrome steigt die Zahl der Auswandernden beträchtlich, auch wenn die Menschen nicht unbedingt aus den Städten kommen, in denen die Pogrome stattfinden. Viele von ihnen reisen durch die Grenzstadt Brody. Die Zahl der Auswandernden nimmt im Laufe des Jahres erst wieder ab, nur um im Frühjahr 1882 erneut massiv anzusteigen. Da die Massenauswanderung schon vor Beginn der Pogrome ihren Anfang nahm, gibt es bis heute unter Historiker:innen unterschiedliche Meinungen, welche Rolle diese für die Auswanderung spielten. Zusätzlich zur körperlichen Gewalt gab es diskriminierende Gesetze, die sich gegen Jüd:innen richteten – sie schränkten sie zum Beispiel in der Wahl ihres Wohnorts oder ihres Berufs ein. Hinzu kam eine wirtschaftlich allgemein schwierige Situation im Zarenreich, die für Jüd:innen durch diskriminierende Gesetze weiter verschärft wurde.

Damals nehmen Presse und Hilfsvereine die Auswandernden als Flüchtende vor den Pogromen war und diskutieren in verschiedenen Ländern – etwa in Österreich-Ungarn, im Deutschen Kaiserreich, in Frankreich und den USA –, wie ihnen am besten zu helfen sei. Eine offene Frage ist auch, wer wann wie viele Menschen aufnehmen soll. Am 23. und 24. April 1882, also vor genau 140 Jahren, findet in Berlin eine internationale Konferenz jüdischer Hilfskomittees statt („Sitzung der Delegirten der Hülfs-Comités für die nothleidenden rußischen Juden“). Sie soll klären, wer für welchen Bereich der Hilfestellung zuständig ist. Das wichtigste Ergebnis ist jedoch, dass sich aus der Konferenz heraus ein internationaler Emigrationsrat formiert – ein Netzwerk der verschiedenen Hilfsorganisationen. Im April 1882 gründet sich in Berlin zudem das Deutsche Central-Comité für die russischen Flüchtlinge (DCC). Es kümmert sich um die Organisation des Transits jüdischer Auswandernder durch das Deutsche Reich. Nur kurze Zeit später werden mit den sogenannten Maigesetzen weitere Einschränkungen für die jüdische Bevölkerung im Zarenreich erlassen.

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Ausschnitt einer Europa-Karte um 1900, Einzeichnung der Stadt Brody (blauer Punkt) im Digitalisat zu Veranschaulichungszwecken durch das DAH; (c) Sammlung Deutsches Auswandererhaus

Kurzbiographie

Derweil reist der Religionshistoriker Moritz Friedländer 1881 und 1882 mehrmals für das Wiener Büro der Hilfsorganisation Alliance Israélite Universelle nach Brody, um von dort aus die Auswanderung von Geflüchteten in die USA zu organisieren. Seine Eindrücke hält er noch 1882 in seinem Buch „Fünf Wochen in Brody“ fest. Eindrücklich beschreibt er die vielen Menschen, die schon frühmorgens versuchen, ihre Weiterreise zu organisieren. Die Diskussion um die Migrant:innen aus dem Russländischen Reich findet nicht nur unter Hilfsorganisationen und in der Politik statt, sondern erfährt durch Bücher wie das von Friedländer oder durch die Presse auch Aufmerksamkeit in der Bevölkerung.

Bedeutung des Objekts

Das Objekt ist eine Seite aus der „Allgemeinen Illustrirten Zeitung“ Nr. 48 aus dem Jahr 1882. Die Graphik ist ein Beispiel dafür, wie die Migrant:innen von zeitgenössischen Medien dargestellt wurden. Im Zentrum steht die Durchgangssituation in Brody: Ankunft, Unterkunft, Versorgung und Weiterreise. Auffällig ist, dass die Menschen als niedergeschlagen oder emotional aufgewühlt dargestellt werden. Der Begleittext zur Graphik betont ähnlich wie Friedländer, dass die Stadt völlig überlaufen sei. Der Text berichtet zudem von mehreren Hilfsorganisationen vor Ort. Auf dem dritten Bild wird den Leser:innen vermittelt, dass die Versorgung in Brody nicht nur materiell war, sondern auch spirituell. Das kam nicht von ungefähr: Brody hatte seit Jahrzehnten den Ruf jüdischer Gelehrsamkeit und eine überwiegend jüdische Bevölkerung. 

Nicht nur im Russländischen Reich wächst zu dieser Zeit der Antisemitismus. Auch im Deutschen Reich wird er immer stärker, hinzu kommen hier allgemeine Vorurteile gegenüber Menschen aus dem östlichen Europa. Insbesondere Preußen ist bemüht, möglichst wenige Immigrant:innen aus der Region aufzunehmen. Stattdessen wird in der Folge stark reglementiert, wie man die Auswandernden zu den Häfen in Bremerhaven und Hamburg transportiert, damit sie nach Übersee weiterreisen.

*Warum benutzen wir hier das Wort „russländisch“ und nicht „russisch“?

Das Russländische Reich (russ. Rossijskaja Imperija) war wie das heutige Russland ein multiethnischer Staat. Das Russische unterscheidet historisch und bis heute sprachlich zwischen ethnischen Russen (russkij) und Staatsbürger:innen des Landes, gleich welcher Nationalität (rossijskij). Die deutsche Übertragung „Russländisch“ wird dieser kulturellen Besonderheit gerecht und ist in der Forschung geläufig. Das Wort bezieht sich dezidiert auf alle Menschen, die in dem Staat lebten oder leben – egal, welcher Ethnie oder nationalen Gruppe sie sich zugehörig fühl(t)en.

Haben auch Sie …

… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0

oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de

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