Figurenbau

Man kann es Menschen oft ansehen: wie sie arbeiten und leben, ihren Alltag gestalten, wie ihre politische Haltung, ihre Philosophie und ihr Verhältnis zu sich und der Welt ist. Vieles sieht man nicht nur in Kleidung oder Frisur, sondern es schreibt sich tief in Falten, Narben und Muskeln ein.

Deswegen beleben seit jeher lebensgroße Figuren die detailgetreuen Nachbauten historischer Schauplätze im Deutschen Auswandererhaus und erzählen selbst Geschichten vom Auswanderer-Sein. Nun wächst des Museums und mit ihm der Raum für diese ganz leibhaftigen Erzählungen. 

Grade in gesellschaftlichen Debatten, wie sie der neue Teil der Dauerausstellung zeigt, treten diverse Akteure, Figuren, auf und auch im „alten“ Teil des Museums gibt es Neues zu erzählen. So hatten die Ausstellungsplanenden eine lange Liste an Figuren-Wünschen. Die verwirklichten in den vergangenen Monaten drei sehr unterschiedliche Ateliers, die sich auf lebensechte Figuren und Nachbildungen aus einer Vielzahl an Materialien spezialisiert haben: das Berliner „Lifelike-Atelier für Figurenbau von Lisa Büscher, das Atelier von Reinhard Bachmann nahe Leipzig und ein Atelier im schweizerischen Flurlingen, das Marcel Nyffenegger gehört.

Letzterer ist ursprünglich gelernter Zimmermann, stellt aber seit über 20 Jahren Nachbildungen für Ausstellungshäuser her. Am 17. Juni 2021 liefert er einige der acht Figuren an, die er – im steten Austausch mit den Wissenschaftler:innen des Deutschen Auswandererhauses und dem Gestaltungsbüro „Andreas Heller Architects & Designers, Hamburg“ -  gefertigt hat und die sich historisch wie persönlich vermutlich nie so begegnet wären. Außer in seinem Transporter. Ein ganzes Team unterstützte ihn, um die große Zahl der lebensecht wirkenden Figuren in kurzer Zeit zu erschaffen. Zu Marcel Nyffeneggers Unterstützer:innen gehören dabei Allrounderinnen wie Sibylle Duttwiler, die den Transport begleitet, aber auch mühevolle Kleinarbeiten, wie das Aufstecken der einzelnen Haare auf den Figurenkopf, übernimmt und Spezialist:innen wie Maskenbildnerin Tina Ehrat und Valentin Rihs, der die authentischen Körperformen der Figuren schnitzt. 

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Eine der Figuren ist eine junge Frau des beginnenden 20. Jahrhunderts, eine Suffragette, die stolz mit ihrer Stoffrosette an der Jacke in Lila, Grün und Weiß ihre politische Forderung nach Frauenrechten sichtbar macht. Ihr Körper wurde aus PU-Schaum (ein dichter, stabilen Kunststoff, der etwa in der Hausdämmung genutzt wird) geschnitzt und mit Epoxyharzen bedeckt. Damit sie stabil befestigt werden kann, befindet sich in ihrem Inneren ein Stahlgerüst. Sehen werden die Besucher:innen davon nichts. Das alles ist unter historisch korrekter Kleidung verborgen, die eine Kostümbildnerin aus dem örtlich nahen, deutschen Sigmaringen im Austausch mit dem Atelier, dem Gestaltungsbüro und den Wissenschaftler:innen entwarf und der Figur direkt auf den synthetischen Leib schneiderte. Die Stiefel sind sogar historische Originale, ein Glücksfund. Von der Figur selbst sind nur die aufwändig modellierten Hände und der fast lebendig wirkende Kopf zu sehen, die durch Silikonschichten und einer speziellen Silikonfarbe überraschende Zartheit, fast wie Haut, erhalten haben. 

Die Inspiration für die Erscheinung der New Yorkerin im Wollkostüm entstand aus historischen Fotos und den Gesichtern lebender Menschen, die man einfacher aus unterschiedlichsten Blickwinkeln untersuchen kann.  Während andere Ateliers sich dazu entschlossen die Gesichter von realen Models abzugießen, entschied sich Nyffenegger aus Vorsicht für eine kontaktärmere Variante und modellierte von einer Vielzahl an Fotos das menschliche Profil ab. Für das Licht der Ausstellung wird die Suffragette noch einmal vor Ort nachgeschminkt werden. Die Frisur aus Kunsthaar sitzt bereits bei ihrer Ankunft gut.

Auch hier gibt es ganz unterschiedliche Philosophien bei den Ateliers, was besser geeignet ist um eine menschliche Erscheinung eindrucksvoll und haltbar nachzuahmen. Manche nutzen ausschließlich Echthaar, wieder andere mischen Kunst- und Naturhaare. Etwas wozu auch Nyffenegger zeitweilig greift. 

Nun wird die neue Figur des Migrationsmuseums von Schöpfer und Ausstellungsgestalter:innen im neuen Ausstellungsraum platziert. So, dass sie den Besucher:innen als ebenbürtig entgegentritt, diese mit klaren Augen aus der Vergangenheit ansehen und – still – von ihrem Leben in der New Yorker Arbeiterklasse erzählen kann. Ob die ausdrucksvolle Haltung der historischen Figur schwer zu modellieren war? Marcel Nyffenegger lächelt: „Dann ist der Entstehungsprozess doch besonders spannend.“